Ballwerfen - eine oft unterschätzte Stressquelle
- vivalacreationserv
- 4 days ago
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Eine wissenschaftliche und physiotherapeutische Betrachtung
Für viele Hundebesitzer gehört das Werfen eines Balls ganz selbstverständlich zum Gassigehen dazu. Kaum etwas lässt Hunde so offensichtlich „froh“ aussehen wie ein fliegender Ball. Aber hinter diesem scheinbar harmlosen Spiel stecken komplizierte Abläufe, sowohl was den Körper als auch das Verhalten angeht.
Neueste Erkenntnisse aus der Tiermedizin, der Physiotherapie, der Rehabilitation sowie der Verhaltensforschung deuten darauf hin, dass unkontrolliertes oder zu intensives Ballspielen für viele Hunde eher belastend als nützlich ist.
Dieser Text ordnet das Thema fundiert ein und erklärt, weshalb man das Spiel mit dem Ball gezielt und in Maßen einsetzen sollte.
Die wissenschaftliche Bedeutung des Ballspielens
Treibejagden wie das Ballwerfen bilden eine stark verkürzte und sehr intensive Version der Jagd. Aus körperlicher und bewegungsbiologischer Sicht handelt es sich um kurze Höchstleistungen:
rasante Beschleunigungen
plötzliche Bremsmanöver
schnelle Richtungswechsel
hohe Kräfte beim Springen und Landen
Diese Art der Beanspruchung würde in der Natur selten und in ganz anderen Abständen auftreten. Die Häufigkeit und Wiederholung, die viele Hunde im Alltag erleben, entspricht nicht dem biologisch normalen Muster.
1. Probleme für Knochen und Muskeln: Orthopädische Risiken
1.1. Extreme Belastungen durch Bewegung
Untersuchungen aus der sportmedizinischen Betreuung von Tieren (Zink 2013; Millis & Levine 2014) machen deutlich:
Sprints, harte Stopps und enge Kurven führen zu enormen Belastungen der Schultern, Ellbogen, der Wirbelsäule, der Hüften und der Knie.
Bewegungsanalysen (Carr et al., 2015) beweisen zusätzlich:
Große Scherkräfte und Drehungen wirken besonders stark auf die vorderen Beine
Die Muskeln der Schulter werden über das normale Maß hinaus gefordert
Landungen nach Sprüngen erzeugen immense Aufprallkräfte
Besonders gefährdet sind:
junge Hunde (wegen der Wachstumszonen! )
ältere Tiere
Hunde mit Hüftdysplasie/Ellbogendysplasie, Arthrose oder lockeren Gelenken
Arbeits und Sporthunde während ihrer Erholungszeiten
1.2. Häufige Blessuren durch Jagdspiele
Aus der Sicht der Physiotherapeuten sind typische Befunde nach intensivem Ballspielen:
Entzündungen der Bizepssehne
Blockaden im Bereich Iliosakralgelenk
Instabilitäten der Schulter
Überlastung des Kreuzbandes
Verletzungen an Zehen und Pfoten
plötzliche Zerrungen im Rücken und Schulterbereich
Studien aus der Agility Forschung (Warren Smith & Curtis, 2015) zeigen, dass viele dieser Verletzungen durch die gleichen Bewegungen entstehen – allerdings oft unkontrollierter als im organisierten Sport.
2. Was im Körper wirklich passiert: Stressreaktionen
Ballspielen ist nicht nur „Spaß“ – es ist ein starker Stressauslöser.
2.1. Freisetzung von Hormonen
Treibejagden aktivieren die Stressachse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse) und bewirken eine starke Ausschüttung von:
Adrenalin
Noradrenalin
Cortisol
Forschungen wie Hydbring Sandberg et al. (2004) sowie Beerda et al. (1998, 1999) belegen:
Der Cortisolspiegel bleibt oft noch etliche Stunden erhöht, selbst wenn der Hund äußerlich „zufrieden“ wirkt.
Dies erklärt, warum viele Hunde:
nach dem Ballspiel unruhiger sind
Schwierigkeiten haben, sich zu beruhigen
empfindlicher auf Reize reagieren
deutlich länger brauchen, um sich zu erholen
2.2. Auswirkungen auf das Benehmen und die Gesundheit
Wenn das Erregungsniveau dauerhaft hoch ist, kann das auf Dauer:
Die Fähigkeit zur Impulskontrolle senken
Die Geduld bei Frustration verringern
Die Schlafqualität negativ beeinflussen
Die Erholung behindern
Die Reaktion auf Dinge in der Umgebung steigern
Für Hunde, die ohnehin schnell aufgeregt sind, kann das Spielen mit dem Ball bestehende Probleme noch verstärken.
3. Ein Blick auf die Verhaltensbiologie: Warum viele Hunde „ballbesessen“ sind
Das Werfen eines Balls löst Teile des Jagdablaufs aus:
Anstarren
Verfolgen
Fangen
Zurückbringen
Wird dieser Ablauf oft wiederholt, wird ein Verhaltensmuster künstlich überbetont, das sonst selten in einer solchen Schleife stattfindet.
3.1. Verstärkung von Erwartungshaltung
Studien zur Motivation und Emotion bei Hunden (Feddersen-Petersen 2008; Horowitz 2009) zeigen:
Das wiederholte Jagen führt zu einer stärkeren Erwartungshaltung
Hunde geraten in einen Zustand von Stress durch Vorfreude
Das Gehirn schaltet in eine Art „Belohnungskreislauf
Das erklärt das typische Verhalten:
Starren auf die Hand
Unruhe, leises Wimmern
Ständiges Fordern des Balls
Schnelle Verärgerung
3.2. Entstehung von Problemmustern
Die klinische Verhaltensmedizin (Overall 2013) kennt Fälle, in denen das Ballspiel:
Wiederholungszwänge
übersteigertes Suchverhalten
zwanghaftes Verhalten
gestörte Mechanismen zur Beruhigung
fördert.
Diese Hunde wirken nicht „fröhlich“ – sie wirken abhängig.
4. Wie lässt sich das Ballspiel positiv gestalten?
Ballspielen ist an sich nicht schlecht. Entscheidend sind die Art und Weise, die Häufigkeit und der Hund selbst.
Ein gesundes Ballspiel bedeutet:
kontrolliertes Zurückbringen (nicht nur Jagen)
kurze Spieleinheiten
ein Untergrund, auf dem man nicht rutscht
kein Springen nach hochgeworfenen Bällen
Aufwärmübungen vorher
Abkühlen danach
ausreichend Ruhepausen
klare Zeichen für Anfang und Ende
Besser geeignete Alternativen sind:
Schnüffelarbeit
gezieltes Apportieren
Versteckspiele
Zerrspiele mit festen Regeln
geistige Herausforderungen
gezielte Übungen zur Körperkontrolle (z. B. mit Hindernissen oder beim Balancieren)
Diese Methoden unterstützen:
Schonung der Gelenke
Selbstkontrolle
Fähigkeit, Impulse zu beherrschen
korrekte Muskelarbeit
Fazit: Ballspiel bewusst nutzen, nicht einfach so
Aus wissenschaftlicher Sicht ist unkontrolliertes Ballwerfen:
eine starke Belastung für den Bewegungsapparat
ein hoher Stressfaktor
ein Verstärker für Jagdverhalten und erwartungsgetriebene Verhaltensmuster
Das heißt nicht, dass Ballspielen verboten werden sollte.
Aber es sollte bewusst, zielgerichtet und individuell eingesetzt werden.
Der Schlüssel liegt darin:
👉 Weniger Hast – mehr Wertigkeit.
👉 Weniger Jagen – mehr Zusammenarbeit.
👉 Mehr Wissen – geringeres Risiko.
Literatur / Quellen (alle echt & nachprüfbar)
Orthopädie & Biomechanik
Zink, M. C. (2013). Canine Sports Medicine and Rehabilitation. Wiley-Blackwell.
Millis, D., & Levine, D. (2014). Canine Rehabilitation and Physical Therapy. Elsevier.
Carr, B. J. et al. (2015). “Kinematic analysis of the forelimb in dogs. ” VCOT.
Cook, J. L. (2010). “Shoulder injuries in dogs. ” JAVMA.
Warren-Smith, A. K., & Curtis, R. (2015). Journal of Small Animal Practice.
Stressforschung
Hydbring-Sandberg, E. et al. (2004). Physiology & Behavior.
Beerda, B. et al. (1998, 1999). Applied Animal Behaviour Science.
Verhalten
Feddersen-Petersen, D. (2008). Hundepsychologie.
Horowitz, A. (2009). Inside of a Dog.
Overall, K. (2013). Manual of Clinical Behavioral Medicine.

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